Subjekte

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Das Paradigma der Selbstorganisation

Die Frage, ob die Besonderheiten wie die Selbstorganisation der lebenden Natur aus den Gesetzen von Physik und Chemie erklärt werden können, beschäftigte nicht nur Biologen, sondern zunehmend auch Physiker und Chemiker. Sie entwickelten neue Begriffe, mit denen Prozesse und Strukturen entfernt vom thermodynamischen Gleichgewicht beschrieben werden. Solche Begriffe sind z.B. "Fließgleichgewicht", "dissipative Struktur", "Selbstorganisation" und "Information".
Einen Beitrag von besonderer Reichweite leistete der Physiker Erwin Schrödinger, der als erster die Idee des genetischen Codes entwickelte. Damit rückte er die Frage nach der physikalischen Natur der Selbstorganisation und der genetischen Information in den Fokus naturwissenschaft-licher Forschung. Damit werden Fragen aufgeworfen, die bislang außerhalb von Physik und Chemie lagen.
In seiner Schrift "Was ist Leben?" schreibt er:

"Die große, wichtige und heiß umstrittene Frage lautet: Wie lassen  sich die Vorgänge in Raum und Zeit, welche innerhalb der räumlichen Begrenzung eines lebenden Organismus vor sich gehen, durch die Physik und die Chemie erklären?
Wenn die heutige Physik und Chemie diese Vorgänge offenbar nicht zu erklären vermögen, so ist das durchaus kein Grund, die Möglichkeit ihrer Erklärung durch die Wissenschaften zu bezweifeln." (S.32)

"Die Anordnung der Atome und deren wechselseitige Beziehung in den lebenswichtigen Teilen eines Organismus unterscheiden sich wesentlich von allen Atomanordnungen, welche Physiker und Chemiker bisher zum Gegenstand ihrer experimentellen und theoretischen Forschung gemacht haben. Und doch ist dieser Unterschied, den ich eben wesentlich genannt habe, von solcher Art, daß jedermann ihn für unbedeutend halten könnte, ausgenommen ein Physiker, der vollständig von der Erkenntnis durchdrungen ist, daß die Gesetze der Physik und Chemie durchwegs statistischer Natur sind. Denn gerade in bezug auf den statistischen Gesichtspunkt ist die Struktur der lebenswichtigen Teile eines Organismus völlig verschieden von der Struktur jedes Stückes Materie, mit dem wir Physiker und Chemiker uns je stofflich in unsern Laboratorien und geistig an unsern Schreibtischen befaßt haben. Es ist beinahe undenkbar, daß die derart entdeckten Gesetze und Regelmäßigkeiten sich nun sofort auf das Verhalten von Organismen anwenden ließen, welche nicht den für jene Gesetze und Regelmäßigkeiten grundlegenden Aufbau zeigen." (S. 32f)

Fortschritte in dieser Richtung wurden vor allem von der Physik ("Biophysik")  und Chemie (Biochemie", "Molekularbiologie") erbracht und lassen sich mit dem Terminus "Selbstorganisation" charakterisieren.
Die Physik erbrachte Beweise dafür, dass es auch der Welt der Physik nicht ausschließlich zufällig zugeht und dass es folglich erforderlich ist, das Paradigmensystem der Physik zu erweitern. Hier sind vor allem die Arbeiten von Bertalanffy ()und Prigogine zu nennen.
Auch sie gehen davon aus, dass die Besonderheiten des Lebens nicht mit den Mitteln der klassischen Physik zu lösen sind. Daraus leiten sie die Aufgabe ab, die klassische Physik weiter zu entwickeln und physikalische Theorien zu entwickeln, mit denen die Probleme des Lebens beschrieben und erklärt werden können. Sie formulierten physikalische Gesetzmäßigkeiten, die in den bis dahin geltenden physikalischen Paradigmata keinen Platz hatten und die geeignet sind, spezifisch biologische Zusammenhänge zu verstehen. Die Physik bewegt sich also auf die Biologie zu.
Bertalanffy führt dazu aus:

"Innerhalb der Naturwissenschaften der Neuzeit war die Biologie oder präziser die Biophysik das erste Gebiet, in dem sich die Notwendigkeit einer Erweiterung der Begriffe der konventionellen Physik und physikalischen Chemie zeigte. Als physikalisches System betrachtet, entspricht ein lebender Organismus nicht den Systemen und Gleichgewichten, wie sie in der konventionellen Kinetik und Thermodynamik behandelt werden." (S. 1)

Er sieht sieht einen Zugang zur Lösung der biologischen Probleme mit den Mitteln der Physik in der Erweiterung der damals bereits als relativ "fertig" betrachteten Thermodynamik:

"Schließlich stellt sich in der Physik die Notwendigkeit einer Verallgemeinerung der Thermodynamik heraus. Die klassische Thermodynamik behandelt Gleichgewichtszustände, Vorgänge in geschlossenen Systemen und Übergänge von einem Gleichgewichtszustand in einen anderen. Die Gleichungen der klassischen Thermodynamik sind damit nur auf reversible Prozesse anwendbar. Ferner gilt der 2. Hauptsatz definitionsgemäß nur für geschlossene Systeme; er definiert nicht die Zustandsbedingungen in offenen Systemen. Diese klassische Lehre wird daher angemessener als ‚Thermostatik’ bezeichnet. Sie erweist sich als unzureichend, sobald Nichtgleichgewichtszustände, Stofftransporte durch die Systemgrenzen und irreversible Prozesse ins Spiel kommen." (S.4)

"Eine sehr grundsätzliche und wichtige Charakteristik der Organismen und Lebenserscheinungen wird durch die Theorie offener Systeme erschlossen. Deshalb fordert die Biophysik eine Verallgemeinerung der bisherigen Modelle und Theorien. Es ist dabei besonders bemerkenswert, daß früher als vitalistisch betrachtete Lebensmerkmale durch diese verallgemeinerte Theorie erfasst werden, das heißt Probleme, die man als jenseits naturwissenschaftlicher Erklärung stehend oder als Durchbrechung physikalischer Gesetze angesehen hatte." (S.7)

Prigogine führt die von Bertalanffy begründete Theorie der offenen Systeme im thermodynamischen Ungleichgewicht weiter:

"Zwei Disziplinen, die unsere Sicht des Komplexen in ganz dramatischer Weise verändert haben, seien besonders hervorgehoben. Die erste ist die Physik von Nichtgleichgewichtszuständen. Das unerwartetste Ergebnis ist hier die Entdeckung fundamentaler neuer Eigenschaften von Materie, die sich weit entfernt von Gleichgewichtsbedingungen befindet. Die zweite Disziplin ist die moderne Theorie dynamischer Systeme. Hier ist die beherrschende Rolle von Instabilitäten die zentrale Entdeckung. Kurz gesagt: Kleine Veränderungen der Anfangsbedingungen können zu großen Verstärkungseffekten führen. " (S.13:)

Mit Blick auf das Bénard - Experiment führt er aus:

 "Ganz gewöhnliche Systeme wie eine Flüssigkeitsschicht oder eine Mischung chemischer Reagenzien können unter gegebenen Umständen Selbstorganisationsphänomene makroskopischer Dimensionen hervorbringen.Kurz gesagt, komplexes Verhalten ist nicht mehr allein auf die Biologie beschränkt. Es ist dabei, in die physikalischen Wissenschaft einzudringen und erscheint ganz tief verwurzelt in den Gesetzen der Natur." (S. 20) 

Zusammenfassend stellt er dann fest:

"Man beachte, daß wir auf den letzten Seiten laufend ein Vokabular benutzt haben, das Begriffe wie Kohärenz, Komplexität und Ordnung umfaßt,  Begriffe also, die seit langem ein integraler Bestandteil der Biologie sind, sich aber bis vor kurzem außerhalb der Hauptströmung der Physik befanden. Die Möglichkeit, mit Hilfe dieser fundamentalen Konzepte sowohl das Verhalten von Lebewesen als auch das ganz gewöhnlicher physikalischer Systeme beschreiben zu können, bedeutet einen ganz enormen Fortschritt. Die Wissenschaft hätte ihn noch vor wenigen Jahren nicht vorhersagen können." (S. 26)

Konzepte wie diese wurden in wissenschaftlichen Disziplinen entwickelt, die sich außerhalb der klassischen Physik, Chemie und Biologie entwickelt haben. Das drückt sich auch in ihren Namen aus: "Biophysik", "Biochemie", "Molekularbiologie" usw.

 

Angemerkt:
Im "Teilprojekt Systeme" habe ich eine Folge technischer Systeme konstruiert, welche die logischen und genetischen Zusammenhänge dieser Begriffe abbildet.

Weiterführende Links:
Bertalanffy, Prigogine, Bénard-Experiment, Schrödinger,
Weiterführende Literatur:
Schrödinger, Erwin (2001): Was ist Leben ? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet, Piper & Co.Verlag, München, Zürich, Beier, Walter; Lauerbach, Robert; Bertalanffy, Ludwig von (1977): Biophysik des Fließgleichgewichts, Akademie-Verlag, Berlin, Nicolis, Gregoire; Prigogine, Ilya (1987): Die Erforschung des Komplexen, Piper & Co.Verlag, München, Zürich

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© Dr. G. Litsche 2006
Letzte Bearbeitung: 23.03.2010