Teilprojekt Paradigmata:
Übersicht
Neben den Versuchen, die autonomen Aktionen der Lebewesen metaphysisch
zu erklären, gibt es eine Reihe von Ansätzen, diese naturwissenschaftlich
zu erklären, d.h. ohne die Annahme immaterieller Entitäten und ohne das
Leben auf physikalisch-chemische Gesetze zu reduzieren. Das
eigentliche Problem dabei ist die Erklärung der spezifischen
Besonderheiten des Lebendigen. Die mechanistischen Ansätze sind notwendig
reduktionistisch, denn sie laufen darauf hinaus, alle Vorgänge und
damit auch die autonomen Aktionen der Lebewesen nicht als Aktionen
zu erfassen, sondern sie als Reaktionen auf äußere Einwirkungen
zu beschreiben. Auf diese Weise werden sie dem Trägheitsparadigma gerecht, dass nichts auf der
Welt ohne äußere Ursache geschieht. Damit sind aber die autonomen
Aktionen auch aus der Menge der zu erklärenden Tatsachen eliminiert, es gibt
sie nicht.
Nicht reduktionistische Ansätze, welche die qualitative Besonderheit der
autonomen Aktionen gegenüber den i. w. S. physikalischen Prozessen
der nicht lebenden Natur abzubilden versuchen, wurden verstärkt im vorigen Jahrhundert entwickelt und bewegten zeitweilig nicht
nur die wissenschaftliche Welt. Diese Ansätze sind dadurch gekennzeichnet,
dass sie die Lebewesen als Subjekte auffassen, die ihre
Bedürfnisse durch autonome Tätigkeit befriedigen. Mit der
Kategorie der Tätigkeit wird die Seinsweise der Subjekte erfasst. Ich
bezeichne dieses Paradigma daher als "Tätigkeitsparadigma".
Die Entwicklung dieses Paradigmas ist mit Namen wie
● Jakob von Uexküll ( 1864 - 1944),
●
Oskar Heinroth (1871 - 1945) oder
● Petr K. Anochin (1898? - 1974)
● Karl Ludwig von Bertalanffy (1901 - 1972)
● Alexej Nikolajewitsch Leont´ev (1903 - 1979) oder
●
Konrad Lorenz (1903 - 1989),
●
Nikolaas Tinbergen (1907 – 1988) oder
● Erich von Holst (1908 - 1962)
●
Irenäus Eibl-Eibesfeldt (geb. 1928)
verbunden.
Sie arbeiteten an der Entwicklung eines neuen Paradigmas, welche die
Paradigmata der Physik nicht in Frage stellte, sondern die Analyse des spezifisch Lebendigen
in deren
Rahmen ermöglichen sollte. Anders als in den vitalistischen
Paradigmata, welche die uneingeschränkte Gültigkeit der physikalisch -
chemischen Gesetze bestreiten, und auch anders als in den mechanistischen
Paradigmata der der Biologie, die versuchten und versuchen auch das
Lebendige ganz im Sinne der "Gliedermaschine" von Descartes ausschließlich
in den Kategorien der Physik abzubilden, will das Tätigkeitsparadigma die Spezifik
des Lebendigen innerhalb der physikalischen Paradigmata verstehen ohne die Besonderheiten des Lebendigen zu negieren.
Dieses neue Paradigma entwickelte sich im vergangenen Jahrhundert durch
Beiträge aller Naturwissenschaften:
● Uexküll entwickelte eine neue wissenschaftliche Sichtweise auf das Lebendige,
in der die Lebewesen als "Subjekte" aufgefasst werden, die sich
selbst eine "Umwelt" schaffen, in der sie zu leben vermögen. Die Welt des
Lebendigen wird durch die Naturkraft der "Planmäßigkeit"
gekennzeichnet ist, die diese von der Zufälligkeit der physikalischen und
chemischen Eigenschaften der nicht lebenden Welt unterscheidet und durch
die Leben nicht erklärt werden kann. Diese Position führt ihn zur Ablehnung der darwinistischen
Evolutionstheorie, in der Zufälligkeit und Anpassung an die Umwelt
tragende Kategorien sind.
Das könnte der Grund dafür sein, dass die Leistung
Uexkülls bis heute in ihrem Umfang kaum rezipiert wurde. Bis heute wird vorwiegend sein Beitrag zur
Entwicklung des Umweltbegriffs genannt, dieser jedoch meist sinnentstellend auf den ökologischen
Aspekt reduziert. (Mehr>>)
● Die Frage, ob die Besonderheiten der lebenden Natur aus
den Gesetzen von Physik und Chemie erklärt werden können, beschäftigte
nicht nur Biologen, sondern zunehmend auch Physiker und Chemiker. Sie
entwickelten neue Begriffe, mit denen Prozesse und Strukturen entfernt vom
thermodynamischen Gleichgewicht beschrieben werden. Solche Begriffe sind
z.B. "Fließgleichgewicht", "dissipative Struktur", "Selbstorganisation"
und "Information". (Mehr>>)
Auch innerhalb der Biologie verstärken sind Forschungen, die auf die
Lösung der Widersprüche des Uexküllschen Paradigmensystems gerichtet sind.
Trotzdem bleibt die Biologie jedoch im Rahmen der Konzepte der klassischen
Physik und Chemie. Der Behaviorismus ist der paradigmatische
Rahmen, in dem das Trägheitsprinzip und die statistische Betrachtungsweise
der Physik und Chemie ihre biologische Gestalt erhalten. Ohne äußeren Reiz
gibt es keine Reaktion des lebenden Organismus. Das Lebewesen bleibt der
cartesianische Automat und wird nicht als autonomes Subjekt verstanden.
● Lorenz steht ganz in der Tradition des
Darwinismus. Folgerichtig kann er das Uexküllsche Paradigma nicht
annehmen, obwohl er sich ausdrücklich mehrfach auf Uexküll bezieht. Die
geistige Verwandtschaft beider drückt sich im Lorenzschen Begriff des
Instinkts aus, der als ererbtes, angeborenes Verhalten einerseits
autonom (und daher nicht durch die Umwelt veränderbar) ist, und der als
genetisch determinierte Entität andererseits den darwinistischen
Prinzipien der Evolution unterliegt. Damit stellt er auch die
Kategorie der autonomen Aktion und des Subjekts in das Paradigma der Evolutionstheorie
und löst damit ein paradigmatischen Grundproblem Uexkülls. (Mehr>>)
● Von Holst u.a. in Deutschland und Anochin in der SU
kritisierten das behavioristische Reflexparadigma aus neurophysiologischer
Sicht und entwickelten neue Kategorien wie "Reafferenz" und "funktionelles
System". (Mehr>>)
● Leont´ev schließlich ging als Psychologe an das Problem
und machte die Begriffe "Subjekt" und "Tätigkeit" zu Kategorien,
die nicht nur ein neues Verständnis des Lebens ermöglichten, sondern
zugleich auch eine neue Sichtweise der menschlichen Seinsweise
begründeten, die schließlich in der kulturhistorischen Schule der
Psychologie weitergeführt wurde. Als "Tätigkeitstheorie" wurde sie zu
einem Paradigma für einen großen Kreis psychologischer, pädagogischer und
anderer Untersuchungen zur menschlichen Tätigkeit in vielen Ländern. (Mehr>>)
Obwohl sich alle diese Autoren bewusst waren, dass sie zu den von ihnen
bearbeiteten Fragen eine grundsätzlich andere Position einnahmen als ihre
Fachkollegen, reflektierten die meisten die Bedeutung ihrer Arbeit für
eine Paradigmenwechsel in der naturwissenschaftlichen Betrachtung der
Lebewesen und der menschlichen Seinsweise wohl nicht bewusst. Sie
betrachteten ihre Arbeit vielmehr als kumulativen Beitrag zur Entwicklung
der Biologie.
Ein Ausnahme machte nur Jacob von Uexküll, der seine "Theoretische
Biologie" als "Erneuerung des Gerüstes" der Biologie verstanden wissen
wollte.
Erst eine neue Sichtweise auf die Entwicklung der
Wissenschaft selbst, wie sie von Thomas S. Kuhn im Jahre 1962 vorgelegt wurde und die
ebenfalls einer Zeit der Rezeption bedurfte, ermöglichte es, den
paradigmatischen Charakter dieser Forschungen zu erkennen. Erst mit
der Formulierung des Prinzips des Paradigmenwechsels als Form der
wissenschaftlichen Revolution können die angeführten Wissenschaftler als
Initiatoren eines naturwissenschaftlichen Paradigmenwechsels
erkannt
werden.
Das von ihnen im Rahmen der Biologie entwickelte neue Paradigma ist nicht
ein in engerem Sinn biologisches Paradigma, sondern kann
nur in Bezug zu den grundlegenden Paradigmata der Naturwissenschaften
insgesamt sowie der Wissenschaften vom Menschen adäquat verstanden
werden. Es erfordert nicht nur die Artikulation und Anpassungen innerhalb
der biologischen und anthropologischen Wissenschaften, sondern auch
Anpassungen in der Physik und der Chemie. Die Anpassungen in Physik und
Chemie hat Bertalanffy mit den Begriffen des
Fließgleichgewichts und des offenen thermodynamischen Systems eingeleitet.
Die Anpassung der Begriffe der Wissenschaften vom Menschen wurde von der
kulturhistorischen Theorie und speziell von Leont´ev begonnen. Von den
biologischen Wissenschaften wurde sein Ansatz überhaupt nicht zur Kenntnis
genommen, obwohl dieser auch und gerade hier zu einem paradigmatischen
Fortschritt hätte beitragen können.