Das paradigmatische Problem
der psychologischen Wissenschaften
Das paradigmatische Grundproblem der psychologischen
Wissenschaften ist die Bestimmung ihres Gegenstandes, die Frage nach der
Natur des Psychischen, Die Frage nach der Seele.
Für gewöhnlich vermeiden Psychologen, die wissenschaftlich ernst genommen
werden wollen, den Ausdruck „Seele“, auch das Wort „Psyche“ wird meist
vermieden. Gebräuchlich sind eher Termini wie „Psychisches“ oder
„psychische Prozesse“. Was psychisch ist, wird dann gewöhnlich durch die
Aufzählung einer Reihe von Prozessen bestimmt, die den Gegenstand der
Psychologie bilden. Offen bleibt die Frage, was denn die jeweils
angeführten Prozesse zu psychischen Prozessen macht. Die Kategorien
„Psyche“ und „Seele“ werden ebenso wie die Kategorie „Geist“ keiner
psychologisch-wissenschaftlichen Analyse unterzogen, sondern in das Reich
der Metaphysik und Philosophie verbannt.
Dieser Umstand ist eine logische Folge des Selbstverständnisses der
Psychologie als Naturwissenschaft. Dieses Selbstverständnis bestimmt auch
das grundlegende methodologische Herangehen der Psychologie als empirische
Naturwissenschaft.
Dieses Grundverständnis kollidiert mit einem anderen Element des
Selbstverständnisses der Psychologie, nach dem das Psychische als etwas
prinzipiell Anderes als das Physische anzusehen ist, das nicht aus dem
Physischen abgeleitet oder erklärt werden kann. So entsteht die
„Psychologie ohne Hirnforschung“.
Vygotskij hat dieses Dilemma der Psychologie bereits vor 80 Jahren
beschrieben. Er zeigt überzeugend, dass der Begriff empirische Psychologie
einen unlösbaren methodologischen Widerspruch enthält. Sie will eine
Naturwissenschaft von nichtnatürlichen, geistigen Dingen sein und
mit der Methode der Naturwissenschaften ein diesen polar entgegengesetztes
Wissenssystem entwickeln, das aus polar entgegengesetzten Prämissen
hervorgeht.(vgl. Vygotskij, S. 192!).
Das Psychische entzieht sich also der Methodik empirischer Beschreibung.
Psyche Seele und Geist sind Kategorien, die nicht mit den Methoden
empirischer Wissenschaften erfasst werden können. Das Bestehen darauf
führt dazu, dass die Psychologie nicht nur eine Wissenschaft ohne
Hirnforschung, sondern auch eine Wissenschaft ohne Psyche, Seele und Geist
wird. Der hirnlose Mensch ohne Seele und Geist – das ist der
paradigmatische Gegenstand der empirischen psychologischen Wissenschaften
von heute.
Der Ursprung des Dilemmas der
Psychologie liegt also in dem Versuch, ihre grundlegenden Kategorien
empirisch, auf naturwissenschaftlichem Wege zu bestimmen. Die
Naturwissenschaft ist aber per definitionem einer empiristischen
Erkenntnistheorie verpflichtet, da sie nur so die Natur als ihren
Gegenstand bestimmen kann. Ohne die Annahme einer außerhalb und unabhängig
vom Menschen existierenden Natur hat der Naturwissenschaftler keinen
Gegenstand mehr.
Aus dem gleichen Grunde ist dieser erkenntnistheoretische Empirismus für
die Psychologie ungeeignet. Sie kann eigentlich nicht annehmen, dass
Psyche, Seele und Geist außerhalb und unabhängig vom Menschen existieren.
Alle Versuche, diese Grundkategorien der Psychologie auf empirischem Wege
zu bestimmen, sind so gründlich gescheitert, dass heute von keinem
Psychologen mehr versucht wird, der wissenschaftlich ernst genommen werden
will, neue Ansätze zur Bestimmung dieser Kategorien zu entwickeln. Die
Psychologen sind vielmehr übereingekommen, diese Kategorien nicht mehr zum
Gegenstandsbereich ihrer Wissenschaft zu zählen. Die Psychologie hat Seele
und Geist aufgegeben.
Der empirische Weg der Erkenntnis führt also nicht zum Ziel. Eine andere
Form der Erkenntnis ist gefordert.
Wie aber ist Erkenntnis ohne Empirie,
ohne sinnliche Wahrnehmung möglich? Bereits diese Frage zeigt die
eigentliche Problematik der Frage nach dem Gegenstand der Psychologie.
Wahrnehmung und Erkenntnis gehören unbestritten zum Gegenstand der
Psychologie. Ihre Erforschung erfordert aber bereits eine gedankliche
Reflektion über Wahrnehmung und Erkenntnis. Die Erforschung des
Psychischen setzt also die Ergebnisse des Forschungsprozesses voraus. Die
Katze beißt sich in den Schwanz.
Konstruktivismus
Die methodologische Negation des erkenntnistheoretischen Empirismus ist
der Rationalismus, der einen bestimmenden Einfluss einer unabhängigen
Außenwelt auf die sinnliche Wahrnehmung bestreitet. Erkenntnis ist hier
nicht Ergebnis der sinnlichen Erfahrung sondern des (reinen) Denkens, der
Vernunft. Heute tritt der erkenntnistheoretische Rationalismus in Gestalt
des Konstruktivismus auf, für den die Welt ein Konstrukt des menschlichen
Denkens ist.
Er beruht einerseits auf den Erkenntnissen der modernen Neurophysiologie,
die gezeigt hat, dass auch die Sinneswahrnehmungen subjektive Konstrukte
sind, die durch Bau und Funktion der Sinnesorgane bestimmt werden.. Das
psychische Geschehen erweist sich als „informationell geschlossen“.
In letzter Konsequenz führt der Konstruktivismus zum Solipsismus, d.h. der
Auffassung, dass es nur das Ich gibt.
Die verschiedenen Spielarten des Konstruktivismus versuchen den
Solipsismus durch zusätzliche Annahmen zu vermeiden. Diese zusätzlichen
Annahmen führen aber stets zu logischen Widersprüchen der jeweiligen
Theorie. Ein bisschen schwanger geht eben nicht.
Der „soziale Konstruktivismus“ macht beispielsweise die zusätzliche
Annahme dass die verschiedenen Gegenstände der menschlichen Kultur
(Werkzeuge, Symbole, Sprache usw.) als materielle Gebilde Objektivationen
(Vergegenständlichungen, Träger) ideeller gesellschaftlicher Inhalte sind
und dem Individuum vermittels Internalisierung (Aneignung) die
Konstruktion seiner subjektiven Wirklichkeit ermöglichen. Das logisch
erforderliche Konstrukt der Internalisierung erfordert aber die
prinzipielle Möglichkeit eines Zugangs von außen. Hier schleicht sich dann
wieder die „Wahrnehmung“ als empiristisch verstandener psychischer Prozess
ein. (vgl. z.B. Berger/Luckmann S.141!)
Die Denkfigur von Vergegenständlichung und Aneignung ist auch die
paradigmatische Grundlage der in der Sowjetunion entstandenen
kulturhistorischen Schule der Psychologie. Im Unterschied zum
Konstruktivismus wird in dieser Sicht durch die individuelle Aneignung der
gesellschaftlichen Inhalte der Kultur nicht die Wirklichkeit der
individuellen Subjekte konstruiert. Im Prozess der Aneignung bilden
sich vielmehr die psychischen Entitäten wie Wahrnehmungen,
Vorstellungen usw. Nicht die subjektive Wirklichkeit ist das Resultat der
Aneignung (Internalisierung), sondern das Psychische. Auch im
kulturhistorischen Konzept der Aneignung vollzieht sich diese letztlich
auf empiristisch verstandenen psychischen Prozessen der Wahrnehmung usw.
Durch die Einordnung der psychischen Entwicklung in die
subjektwissenschaftliche Kategorie der Tätigkeit gewinnen die Kategorien
der Psychologie im kulturhistorischen Paradigma jedoch eine andere
Qualität. Deshalb bedarf dieses Paradigma einer gesonderten Darstellung.
Das Kategoriensystem des
Konstruktivismus ist wie das des Empirismus im Gegenstandsbereich
Wirklichkeit – Psychisches angesiedelt. Während der Empirismus das
Psychische aus der Wirklichkeit erklärt, versucht der Konstruktivismus die
Wirklichkeit aus dem Psychischen zu erklären. Damit geht er am Problem der
Psychologie vorbei, denn er erklärt nicht die Entstehung des Psychischen,
sondern die Entstehung des Wirklichen. Der Konstruktivismus ist also
ebenfalls nicht geeignet, das Problem nach der Natur der Psyche, der Seele
wissenschaftlich zu lösen.
Der Empirismus stellt zwar die Grundfrage der Psychologie, weiß aber keine
Antwort. Der Konstruktivismus hat stellt diese Frage nicht und kann darum
auch keine Antwort finden.
Ich sehe einen Grund für dieses Dilemma darin, dass das Psychische gar
nicht im Gegenstandsbereich Wirklichkeit – Psyche angesiedelt ist und dass
folglich zunächst ein Kategoriensystem entwickelt werden muss, in dem dann
das Psychische anzusiedeln wäre. Die hier fehlende Kategorie ist die
Kategorie des Subjekts.
Der Terminus „Subjekt“ geistert natürlich in nahezu allen psychologischen,
konstruktivistischen und erkenntnistheoretischen Schriften durch die
Zeilen. Es geht ihm aber ebenso wie der Terminus „Psychisches“, er wird
fast nie einer Definition für würdig befunden und erreicht auch so nie den
Status einer Kategorie. In naturwissenschaftlich begründenden Arbeiten
wird er oft im Sinne von „Gehirn“ verwendet, in Arbeiten, die ohne
neurophysiologischen Bezug auskommen wird er oft im Sinne von „Psyche“
verwendet. Hiervon ist nur Leont´ev auszunehmen. Soweit mir bekannt, ist
er der einzige Psychologe, der die Kategorie des Subjekts einer
grundlegenden Analyse unterzieht. An dieser Stelle mag dieser Hinweis
genügen. Umfassender habe ich mich
an
anderer Stelle geäußert.
*
Es ist nicht das Anliegen dieser Seite, das paradigmatische Problem der
psychologischen Wissenschaften auch zu lösen. Es kam mir darauf an zu
zeigen, dass
Paradigmensystem der Mainstream- Psychologie ungeeignet ist ihre wirklichen Probleme
zu lösen. Dazu muss sie ein neues System von Paradigmata entwickeln.
Wie auf den anderen Seiten des Teilprojekts „Paradigma“ dargelegt wurde,
ist die Psychologie damit nicht allein. Auch das Paradigmensystem der
Biologie ist an seine Grenzen gestoßen. Wie noch zu zeigen sein wird. kann
ein anderes Paradigmensystem der Biologie auch die Lösung der
paradigmatischen Probleme der Psychologie zu lösen. Einen umfassenden
Ansatz zur Lösung der Probleme habe ich in dem Buch "Theoretische
Anthropologie" vorgelegt. In den "Thesen
zum Begriff der Psyche" habe ich einen Extrakt versucht.