Subjekte

Menschen können nur als Menschen sein, indem sie einander Subjekte sind.

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Nichts ist in unseren Sinnen, was nicht zuvor in unserem Verstand war.
 

Zufall, Emergenz, Kollaps der Wellenfunktion usw.

Jede einigermaßen entwickelte Gesellschaft hat Verfahren dazu entwickelt, wie mit Erscheinungen umzugehen ist, die sie nicht in das gegebene Erkenntnissystem einordnen kann. Sie werden beispielsweise mit einem Tabu belegt oder werden als nicht erklärbare Geheimnisse oder Mysterien angesehen. In der wissenschaftlichen Erkenntnis übernimmt das Paradigma die Funktion der Weltanschauung. Die heute vor allem in der westlichen Welt gültigen wissenschaftlichen Paradigmata sind rationalistisch, was u.a. bedeutet, dass die Existenz prinzipiell unerklärbarer Erscheinungen nicht zugelassen wird. Die Wissenschaft kennt keine Geheimnisse und keine Mysterien.
Die im Rahmen eines Paradigmas noch nicht gelösten Probleme sind seine Rätsel (vgl. Kuhn, S. 51ff.). Die Rätsel der Wissenschaft zeichnen sich wie gewöhnliche Rätsel durch eine Reihe von Vorgaben und Einschränkungen aus, die bei ihrer Lösung zu beachten sind. So müssen sie eine sichere Lösung haben, es gibt eine endliche Menge zulässiger Lösungen und es gibt Regeln, welche  zu gehenden Schritte vorgeben.
Aber auch wenn auf diesem Wege Daten gewonnen werden, die mit dem Paradigma, in dem sie erhoben wurden, unverträglich sind, werden sie nicht als unerklärbar angesehen. Sie sind zunächst „Anomalien“, die durch neue Theorien erklärbar gemacht werden. In einem meist langwierigen und komplizierten Prozess werden manche der neuen Theorien schließlich von einer Gemeinschaft von Wissenschaftlern angeeignet und so zu deren neuem Paradigma.
Im heutigen System der wissenschaftlichen Paradigmata gibt es nun auch eine Reihe von Kategorien, die es erlauben, die im Rahmen der aktuellen wissenschaftlichen Theorien noch unlösbaren Problemen begrifflich und terminologisch zu „handhaben“. Je nach der Art des ungelösten Problems sind das beispielsweise Kategorien wie „Zufall“, „Emergenz“ oder „Kollaps der Wellenfunktion“. 

Während der Zufallsbegriff eher allgemeiner Natur ist und in allen Wissensbereichen angewendet wird, heißt er beispielsweise in der Systemtheorie „Emergenz“ und in der Quantenmechanik „Kollaps der Wellenfunktion“. Gemeinsam ist allen diesen Begriffen, dass sie dass nicht Erklärbare eines Wissensbereiches abbilden. In einem Essay im Spektrum Online-Lexikon schreibt Vollmer:
„Für den wissenschaftlichen Sprachgebrauch muß der Zufallsbegriff präzisiert werden. Dabei sind verschiedene Bedeutungen zu unterscheiden, die in einschlägigen Diskussionen leicht durcheinander geraten:
– Ein Ereignis ist objektiv zufällig, wenn es keine Ursache hat.
– Ein Ereignis ist subjektiv zufällig, wenn wir dafür keine Erklärung haben und auch keine erwarten.“ (Spektrum Online-Lexikon, Download Oktober 2007)

Ähnliche Standpunkte sind in der Literatur verbreitet. Gemeinsam ist allen, dass im Begriff des Zufalls die Tatsache abgebildet wird, dass wir ein zu beobachtendes Ereignis nicht voraussagen oder auf andere Weise erklären können. Der Zufall bildet also eine Eigenschaft unseres Erkenntnisvermögens ab, nämlich die Unfähigkeit, ein Ereignis der Realität zu erklären. Die Unfähigkeit kann zwei verschiedene Gründe haben:
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Der Zufall bildet eine absolute (einstellige) Eigenschaft der Realität ab. Diese Annahme ist jedoch logisch widersprüchlich. Eine Eigenschaft, die es nicht gibt, kann empirisch nicht abgebildet werden, sie kann nicht wahrgenommen werden. Zufall als Eigenschaft der Realität kann also nur als theoretische Eigenschaft konstruiert werden, wie beispielsweise die Dreiohrigkeit von Hasen. Damit aber ist der Zufall wieder im Bereich des menschlichen Erkenntnisvermögens angesiedelt, und zwar ebenfalls als Konstrukt.
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Der Zufall bildet eine relative (zweistellige) Eigenschaft der Realität ab, gewisse Ereignisse sind in Bezug auf unser Erkenntnisvermögen nicht erklärbar. Ein geeignetes Erkenntnisvermögen vorausgesetzt, kann jedes reale, beobachtbare Ereignis auch erklärt und vorausgesagt werden.

o        Dieses Unvermögen kann zeitweilig sein und durch die weitere Entwicklung unseres Erkenntnisvermögens überwunden werden. Das betrifft nicht nur unsere Instrumente wie Computer, Mikroskope oder Teilchenbeschleuniger, sondern vor allem auch unsere wichtigsten Erkenntniswerkzeuge, die Zeichen und Zeichensysteme. Viele Ereignisse erscheinen uns zufällig, wenn sie auf dem Zusammentreffen von Ereignissen beruhen, die in (noch) nicht kompatiblen Zeichensystemen abgebildet werden. Abgesehen von dem viel zitierten Dachziegel auf dem Kopf des Spaziergängers gibt es auch viele nichttriviale Fälle. So treffen beispielsweise biologische und geologische Ereignisse zusammen, wodurch sowohl die biotische Evolution als auch die geologische Entwicklung beeinflusst werden. Solche Prozesse müssen uns zufällig erscheinen, obwohl jeder Prozess für sich erklärbar ist, nicht jedoch der eine aus dem anderen. Quantenmechanische Ereignisse können auf zwei verschiedene Zeichensysteme (Formalismen) abgebildet werden, die Wellentheorie und die Teilchentheorie („Welle-Teilchen-Dualismus). Zur Zeit ist es nicht möglich, sowohl Wellen- wie Teilcheneigenschaften aus einem einzigen Formalismus abzuleiten. Die zu beobachtenden Eigenschaften sind daher nicht vorhersagbar, zufällig.
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Ähnliches liegt auch dem Begriff der Emergenz (Lorenz: „Fulguration“) zugrunde. In Systemen treten Eigenschaften auf, die nicht aus den Eigenschaften der Bestandteile des Systems abgeleitet werden können. Noch vor kurzem wurde als Schulbeispiel oft der Umstand angeführt, dass die Eigenschaften von Wasser nicht aus den Eigenschaften der Bestandteile (Wasserstoff und Sauerstoff) abgeleitet könnten (vgl. beispielsweise Mayr, S.403). Die Eigenschaften des Wassers seien emergent. Heute ist das Problem gelöst.
o    Dieses Unvermögen kann aber auch prinzipieller Natur sein. Ereignisse auf der Ebene von Atomen oder gar Elementarteilchen erfolgen so schnell und zahlreich, dass die gleichzeitige Erfassung einer mit unseren Sinnen wahrnehmbaren Menge das Leistungsvermögen auch der größten Computer überschreiten würde. Aber selbst wenn solche Computer einst geschaffen würden, ist unser Wahrnehmungssystem nicht geeignet, Informationen dieser Menge aufzunehmen und zu verarbeiten.

·         Schließlich nennen wir auch Ereignisse zufällig, die auf gewissen Zusammentreffen von zielstrebigen Aktionen von Subjekten resultieren. Wenn sich Herr Miller aus Washington und Herr Antonov aus Moskau in Berlin an der Weltzeituhr begegnen, kann das durchaus zufällig sein. Es erscheint ihnen aber nur zufällig, wenn sie einander kennen und sich nicht verabredet haben. Im anderen Fall ist ihr Zusammentreffen keinesfalls zufällig, sondern von beiden vorhersagbar. Zufällig wäre es, wenn sie einander verfehlten. Zufällig erscheint das Zusammentreffen auch unbeteiligten Dritten, die das Treffen beobachten.

Schließlich hängt die Zuweisung des Prädikats „zufällig“ auch von dem Erkenntnissystem ab, in dem das Ereignis abgebildet wird. Die bisher genannten Fälle setzen das Erkenntnissystem der westlichen Kulturen voraus, das wesentlich durch das deterministische (kausalistische) Paradigma der Naturwissenschaften geprägt ist. In anderen Gesellschaften gibt es jedoch ganz andere Erklärungsweisen.
Lanius beschreibt beispielsweise die Denkweise australischer Ureinwohner. Zeugung und Empfängnis bestehen in den Vorstellungen der Aborigines aus einem biologischen und einem spirituellen Teil. Letzterer verbindet sieh mit der Vorstellung eines Geistkindes. Geistkinder sind nicht als materielle Wesen aufzufassen, die als Keime. oder als Vorformen realer Babys existieren. Sie sind immaterielle Wesen, die sich bevorzugt an besonders fruchtbaren Orten befinden, wo sie durch die mythischen Ahnen hinterlassen wurden. (Vgl. Lanius S.42ff.) Weiter zitiert er eine alte Aborigine: „Ja, ich weiß, was der Weiße sagt, aber ich glaube nicht, dass er recht hat. Wenn es stimmen würde, müssten verheiratete Frauen andauernd Kinder bekommen, weil sie ja ständig mit ihren Ehemännern zusammenleben. Aber das ist nicht der Fall. Einige Frauen haben viele Kinder, manche nur wenige und wieder andere haben gar keine. Der Weiße kann das nicht erklären, aber wir schon. Wenn eine unserer Frauen viele Babys hat, wissen wir, dass sie ein Liebling der muri, der kleinen Geistkinder, ist. Wenn eine andere nur wenige Kinder hat, wollen nur ein paar muri sie als Mutter. Und wenn eine Frau gar keine Kinder bekommt, dann weiß jeder, dass die kleinen Geistkinder sie nicht mögen. Nein-. so kam die alte Dame zu dem Schluss, ich glaube nicht, dass der Weiße recht hat, denn er kann das alles nicht erklären, wir aber schon.“ (Lanius, S 42 ff.)
Und wer sich in unseren Breiten einem chinesischen Arzt anvertraut, geht davon aus, dass dessen Voraussagen im System unserer wissenschaftlichen Medizin (unserer Schulweisheit) keinen Platz haben. Er kann sie in diesem System nicht erklären, er muss sie glauben. Was zufällig ist und was erklärbar und voraussagbar, wird also primär von dem Erkenntnissystem bestimmt, in dem das zu erklärende Ereignis erklärt wird. Dieses gibt vor, was als Erklärung zugelassen ist.

Das Gefährliche am Zufallsbegriff und seinen Verwandten ist der Umstand, dass sie den Charakter einer „letzten Ursache“ annehmen, wenn sie als Objekteigenschaften betrachtet werden. Diese Zuschreibung beendet Erkennen, denn wenn etwas objektiv, tatsächlich unerklärbar, zufällig ist, kann nicht mehr sinnvoll nach einer erklärenden Ursache geforscht werden. Deshalb verwende ich diese Termini als relative, theoretische Prädikate, die nur der menschlichen Erkenntnis zugeschrieben werden können (). Ihnen entspricht keine Eigenschaft realer Objekt, sie bilden Eigenschaften des Erkenntnisvermögens ab. Nicht die Realität ist unerklärlich, nur unser Erkenntnisvermögen kann das betreffende Ereignis prinzipiell nicht oder gegenwärtig noch nicht erklären.

 

 

 

 

 

 

 

Zitiertes:
Zufällig im objektiven Sinne ist aber auch das Zusammentreffen vorher unverbundener Kausalketten. Man trifft einen Bekannten auf Mallorca (ohne mit ihm verabredet zu sein); der Hammer des Dachdeckers fällt (ohne böse Absicht) dem vorübereilenden Arzt auf den Kopf; ein Gammaquant vom Fixstern Sirius löst in einem Chromosom eine Mutation aus. Obwohl jede einzelne Kausalkette in sich geschlossen und vielleicht vollständig erklärbar ist, bleibt doch das Zusammentreffen dieser lückenlosen Kausalketten ohne direkte Ursache, also auch ohne Erklärung; es ist zufällig. (Vollmer)

 

 

 

 

 

 

Angemerkt:
Schrödinger erörtert das Verhältnis dieser Ebenen in seiner auch heute noch bedeutsamen Schrift „Was ist Leben?“ In dieser stellt er die Frage: "´Warum sind die Atome so klein?" (S. 36) die er in die Frage überführt: "
Warum müssen im Vergleich zu dem Atom unsere Kör­per so groß sein?" (S. 38). Schließlich kommt er zu dem Resultat: "Wenn dem nicht so wäre, wenn wir so empfindliche Organismen wären, daß ein einzelnes Atom oder meinetwegen ein paar Atome einen wahrnehmbaren Eindruck auf unsere Sinnesorgane machen könnten - du lieber Himmel, wie sähe das Leben dann aus! ... Ein so beschaffener Organismus wäre ganz sicher nicht fähig, die Art geordneter Gedanken zu entwickeln, welche über eine lange Reihe von Vorstufen fortschreitend schließlich unter vielen anderen Begriffen den Begriff des Atomes schafft." (S.39)
Unser Erkenntnisvermögen beruht also u.a. auf dem Umstand, dass wir einzelne Atomen nicht wahrnehmen können, dieses Unvermögen unserer Erkenntnisorgane ist also notwendig und nicht überwindbar.

Weiterführende Literatur
Lanius, Karl (2005): Weltbilder * Eine Menschheitsgeschichte,  Faber & Faber, Leipzig,
Mayr, Ernst (2000): Das ist Biologie – Die Wissenschaft des Lebens, Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg – Berlin
Schrödinger, Erwin (2001): Was ist Leben ? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet, Faber & Faber, Leipzig

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© Dr. G. Litsche 2006
Letzte Bearbeitung: 01.06.2011